Immer häufiger wird der Sozialstaat zur Zielscheibe unsachlicher Angriffe. Er wird schlechtgeredet und sogar diffamiert. Das Bild wird von reißerischen Schlagzeilen und von zum Teil grotesken Vorschlägen selbsternannter Experten bestimmt. Die, die ihn tatsächlich fördern und fortentwickeln wollen, befinden sich in der Defensive. Und bei den Menschen – so scheint es – verliert der Sozialstaat an Sympathie.
Da wird von „Schockzahlen beim Bürgergeld“ berichtet, weil sich die „Betrugsfälle verdoppelt“ hätten und der Staat „regelrecht geschröpft“ werde. Ohnehin hätte sich bei vielen Leistungsbeziehenden eine „Hängematten-Mentalität“ eingestellt, die „einfach nicht länger geduldet“ werden könne: „Wer arbeiten kann, es aber nicht will, soll künftig leer ausgehen!“, so einige Verfechter rigorosen Vorgehens. Selbst der Bundeskanzler spricht sich deutlich vernehmbar beim Bürgergeld für „geringere Sätze“, eine „Deckelung bei den Mietkosten“, die „Überprüfung der zugestandenen Wohnungsgröße“ und für „Pauschalierungen“ aus.
In der Rentenpolitik spricht die Wirtschaftsministerin, dass der „Kipppunkt immer näher rückt“ und in absehbarer Zeit das „System kollabiere“. Wir müssten deshalb mehr und länger – „bis zum 70. Lebensjahr“ – arbeiten. Auf Dauer funktioniere es nicht, dass Menschen „nur zwei Drittel ihres Lebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen“. Und einige stellen sogar die Witwenrente infrage: „Unter Anreizaspekten wäre es gut, wenn die Witwenrente wegfällt. Frauen können heute für sich selbst sorgen.“ (Wirtschaftsweiser Prof. Dr. Martin Werding). Auch in der Pflegepolitik wird Alarm geschlagen. Die Kosten seien einfach nicht mehr tragbar. Im Prinzip sei das System Pflege „an die Wand gefahren“, denn immer mehr Risiken müssten inzwischen von den Versicherten selbst gedeckt werden – ganz anders als bei der Einführung der Pflegeversicherung vollmundig erklärt worden war. Und das Handelsblatt titulierte aktuell zum Sozialstaat: „Wäre das Sozialsystem ein Haus, dann wäre es einsturzgefährdet."
Angesichts „leerer Kassen“ in den Sozialversicherungen und „großer Löcher“ in den Haushalten des Bundes, der Länder und der Kommunen verschärft sich merklich die Krisenrhetorik der Kritiker. Aber auch der Zusammenhang mit dem „demografischen Wandel“, bei dem die Zahl der „jungen Einzahler“ in die Sicherungs-Systeme abnimmt, sorgt für eine bedrohlich erscheinende Krisenstimmung. Deshalb seien jetzt „weitreichende Veränderungen und Verschärfungen“ nötig – so jene, die einen „Herbst der Reformen“ im Sozialstaat proklamieren und dabei offen von „Kürzungen und Streichungen“ sprechen. Im Übrigen müsse dies nicht zuletzt auch deshalb geschehen, um dem „gravierenden Missbrauch“ von Sozialleistungen entgegenzuwirken.
Dass dieser Punkt wenig praxistauglich ist, belegt folgender Vergleich: In Deutschland entstehen nach Schätzungen der Hans-Böckler-Stiftung jährliche Schäden in Höhe von 60 Millionen Euro durch die missbräuchliche Inanspruchnahme von Bürgergeld. Schätzungen der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass hingegen Steuerhinterziehung 100 Milliarden Euro ausmacht. Wer in Sorge um den Bundeshaushalt ist, findet also erheblich lukrativere Bereiche. Dass der Leistungsmissbrauch bekämpft werden muss, versteht sich von selbst. Aber warum keine Initiative zur stärkeren Bekämpfung von Steuerhinterziehung erfahrbar ist, bleibt ein Geheimnis.
Erstaunlicherweise wird in der aktuellen Debatte das Thema des „starken Sozialstaats“, der politische Stabilität sichert und gesellschaftlichen Konsens fördert, ausgeblendet. In der Diskussion scheinen die Grundsätze „Solidarität, soziale Gerechtigkeit, gesellschaftliche Teilhabe und Chancengerechtigkeit“ verloren zu gehen, obwohl sie den Sozialstaat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs über viele Jahre erfolgreich prägten. Alles wird der „Leeren-Kassen-Betrachtung“ untergeordnet.
Seltsam und erhellend zugleich: Als die AGENDA 2010 und die sogenannten „Rentenreformen“ vor etwa 25 Jahren auf den Weg gebracht wurden, sind exakt dieselben Begründungen für die Bekämpfung der Krise verwendet worden. Und tatsächlich folgten damals als Reformen verkleidete Streichungen und Leistungskürzungen in erheblichem Umfang. Es handelte sich um nichts anderes als um eine „Umverteilung von unten nach oben“, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Unternehmenssteuern und der Spitzensteuersatz zugleich deutlich gesenkt worden waren. Wie ein roter Faden zog sich dieser als „Konsolidierung“ verstandene Prozess durch das letzte Vierteljahrhundert. Er hat für viele Menschen erhebliche wirtschaftliche und soziale Verschlechterungen mit sich gebracht und zum Teil große Verwerfungen verursacht. Vieles ist seither aus der Balance geraten. Einen Wohlstand für alle gibt es seit Jahren nicht mehr.
Muss bei den angekündigten „Herbstreformen“ ein ähnliches Handlungsmuster befürchtet werden? Die jüngsten Beschlüsse und die wahrnehmbare Krisenrhetorik passen jedenfalls dazu: Die Bundesregierung beschloss ein milliardenschweres Steuerpaket („Investitionsbooster“) für Unternehmen, während die Regelleistungen beim Bürgergeld bis zum 31. Dezember 2026 eingefroren werden. Warum fällt den „Reformern“ in der Krise stets nur das Kürzen von Leistungen ein und dieses stets ausschließlich bei den Armen, während zugleich Unternehmen finanziell erheblich entlastet werden? Der verbreitete Eindruck, dass generell die Schwachen immer belastet und die Starken entlastet werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Warum geht es nicht einmal umgekehrt – mit einer „Umverteilung von oben nach unten“?
Prof. Dr. Achim Truger, Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft, hat vor kurzem einen positiven Kontrapunkt gesetzt: Laut dem Ökonomen wären Vermögensabgaben oder ein Krisen-Solidaritätszuschlag zur Einkommens- und Körperschaftsteuer sinnvoll, um die Defizite zu beheben. Er könne schnell und ohne bürokratische Hürden erhoben werden und „sei gezielt auf die oberen 5 bis maximal 10 Prozent der Einkommensverteilung auszurichten“. Er betrachtet den Krisen-Soli als „wesentliches Element einer Anti-Kettensägen-Strategie“.
Ist es jetzt nicht an der Zeit, auch mit einem anderen Blick auf die aktuellen Herausforderungen der Sicherungssysteme zu schauen, um zu verhindern, dass die bestehende soziale Spaltung und Polarisierung in der Gesellschaft nicht noch größer wird? Muss nicht jetzt dafür gesorgt werden, dass der bereits ausgeprägte Vertrauensverlust vieler wirtschaftlich benachteiligter Menschen gegenüber Institutionen, Parteien und Organisationen nicht noch weiter wächst?
Eine ehrliche und deutliche Finanz- und Steuerwende, die nicht zu Lasten der kleinen Leute und der Geringverdiener geht und die Beendigung vom Ausklammern verteilungspolitischer Möglichkeiten könnten die anstehenden finanziellen Lücken und Defizite ausgleichen und zugleich zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Demokratie beitragen. „Wenn man nichts gegen die Ungleichheit und gegen Armut tut, sondern lieber die Armen bekämpft als die Armut, dann wird sich dieses Problem, dass unsere Gesellschaft immer stärker auseinanderdriftet […] dass auf der einen Seite die Armut in die Mitte der Gesellschaft hinein vordringt […] und andererseits sich der Reichtum in immer weniger Händen konzentriert, dieses Problem […] wird zunehmen“, so Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge. Der o. g. Vorschlag von Prof. Dr. Achim Truger mit der Einführung eines „Krisen-Solidaritätszuschlags“ für die Einkommensstarken könnte gut dabei helfen.
Aber auch andere steuerpolitische Möglichkeiten könnten zur Anwendung gebracht werden, ohne einkommensärmere Gruppen zu belasten und gleichwohl doch die Einkommenslage der öffentlichen Kassen entscheidend zu verbessern. Mit den Stellschrauben Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer etwa ließe sich mit politischer Vernunft ein gerechteres Deutschland wiederherstellen. Eine Steuerwende in diesem Sinne wäre ein Akt der Solidarität mit ärmeren Menschen und zugleich ein Beitrag für den gesellschaftlichen Ausgleich. Deshalb kurz und knapp im Fazit zusammengefasst: Eine Umverteilung „von oben nach unten“ ist überfällig, damit wieder „Wohlstand für alle“ erzielt werden kann!
Alfred Bornhalm ist Landesvorsitzender im Sozialverband (SoVD) Schleswig-Holstein.